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(Aktualisierte) Ergebnisse der
rechtstatsächlichen Studie
“Rechtsmittel im Strafrecht”

Jörg KINZIG

I. Einleitung

Zunächst möchte ich mich bei der Bahçeşehir Universität von Istanbul und beim Kassationshof von Ankara sehr herzlich für die überaus ehrenvolle Einladung bedanken! Ich freue mich sehr, bei dieser Tagung zu Ihnen sprechen zu dürfen! Namentlich bedanken möchte ich mich bei zwei Personen: zum einen bei meinem sehr verehrten Kollegen, Herrn Feridun Yenisey, über den der Kontakt zu diesem Vortrag zustande kam. Und zum zweiten bei Frau Ayşe Özge Atalay, die meine Anreise und den Aufenthalt in der Türkei so perfekt organisiert hat.

Ich persönlich war schon mehrfach in der Türkei. Und es ist mir immer wieder eine große Freude, in diesem schönen Land sein zu dürfen.

Zu Beginn möchte ich Ihnen ganz kurz zeigen, woher ich komme. Mitgebracht habe ich Ihnen eine Karte von Europa, in dessen Herzen Deutschland liegt. Auch die Türkei werden Sie unschwer erkennen.

Die Stadt Tübingen, an deren Universität ich Professor bin, gehört zu Baden-Württemberg. Dieses Bundesland befindet sich wiederum im Südwesten von Deutschland.

Tübingen ist eine kleine Stadt, die nur 85.000 Einwohner hat. Und obwohl Tübingen nur eine kleine Stadt ist, besitzt es eine große und altehrwürdige Universität. Immerhin studieren in Tübingen derzeit rund 28.000 junge Menschen. Die Universität wurde bereits im Jahr 1477 gegründet, ist also weit mehr als 500 Jahre alt. Damit gehört sie zu den ältesten Universitäten Deutschlands. Auf der rechten Seite können Sie das Hauptgebäude der Juristischen Fakultät, die sogenannte Neue Aula, erkennen.

Das Institut für Kriminologie, das ich leite und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Sie hier sehen, ist zwar nur etwas mehr als 50 Jahre alt. Es ist aber dennoch das älteste kriminologische Institut in Deutschland. In Tübingen lehre und forsche ich vor allem in der Kriminologie, im Strafrecht, im Jugendstrafrecht und über den Strafvollzug.

Zudem betreiben wir an meinem Institut auch empirische Forschungen zum Strafverfahrensrecht. Damit habe ich bereits Ende der 1990er Jahre begonnen, als ich noch am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg gearbeitet habe. Meine Kollegin Monika Becker und ich haben damals im Auftrag des Bundesjustizministeriums die Rechtsmittel im Strafrecht rechtstatsächlich und rechtsvergleichend untersucht. Die Arbeit ist zwar bereits im Jahr 2000, also vor nunmehr 17 Jahren, erschienen.1 Sie stellt aber unverändert die aktuellste und umfassendste empirische Untersuchung vor, die in Deutschland über den Gebrauch der Rechtsmittel in Strafsachen publiziert wurde. In den folgenden Minuten möchte ich aus dieser Untersuchung berichten. Ich nehme an und hoffe, dass die vor allem mit der Berufung gemachten deutschen Erfahrungen auch für die türkischen Kolleginnen und Kollegen von Bedeutung sind da die Berufung ja erst vor rund einem Jahr in der Türkei eingeführt wurde.2

Meinen nun folgenden Vortrag möchte ich in vier Abschnitte unterteilen. Nach dieser Einleitung (I.) werde ich Ihnen in einem zweiten Teil (II.) ganz aktuelle empirische Daten zum Gebrauch der Rechtsmittel in Deutschland vorstellen. In einem dritten Abschnitt (III.) möchte ich Sie über die wichtigsten (empirischen) Ergebnisse der bereits erwähnten Studie mit dem Titel „Rechtsmittel im Strafrecht“ informieren. Abschließen möchte ich meinen Vortrag mit einer kleinen Zusammenfassung (IV.).

Meine beiden Kollegen, die sehr verehrten Herren Gössel und Rothfuß, haben Sie bereits mit den Rechtsmitteln der Berufung und Revision in Deutschland vertraut gemacht.

Ich muss und werde das natürlich nicht wiederholen, möchte Ihnen aber zur Einstimmung auf die dann folgenden rechtstatsächlichen Ergebnisse und zum Abschluss meiner Einleitung noch einmal kurz den Instanzenzug in Deutschland verdeutlichen (Schaubild 1).

Deutschland verfügt über drei sogenannte Eingangsinstanzen. Die weitaus meisten Strafsachen werden bei uns vor dem Amtsgericht verhandelt. In Deutschland existierten zuletzt 639 Amtsgerichte.3 Kleinere Strafsachen werden vor dem Einzelrichter verhandelt, größere gelangen vor das Schöffengericht. Ganz generell gibt es in Deutschland - wenn ich richtig informiert bin im Gegensatz zur Türkei4 - eine Beteiligung von Laienrichtern. So sitzen beim Schöffengericht neben einem Berufsrichter auch zwei Schöffen über den Angeklagten zu Gericht (§§ 28 ff. GVG). Ganz generell darf das Amtsgericht nicht mehr als vier Jahre Freiheitsstrafe verhängen (§ 24 Abs. 2 GVG).

Gegen Urteile des Strafrichters und des Schöffengerichts ist das Rechtsmittel der Berufung zulässig (§ 312 StPO). Wird gegen ein Urteil unbeschränkt Berufung eingelegt, gilt der ganze Inhalt des Urteils als angefochten (§ 318 S. 2 StPO). In der Berufungsinstanz wird daher in der Regel das ganze Verfahren noch einmal aufgerollt, d. h. also zum Beispiel die bereits in erster Instanz angehörten Zeugen werden noch einmal vernommen.5 Die sogenannte kleine Strafkammer am Landgericht entscheidet wiederum mit einem Berufsrichter und zwei Laienrichtern (Schöffen) (vgl. §§ 74 Abs. 3, 76 Abs. 1 S. 1 GVG). Das führt zu dem seltsamen Umstand, dass die Zahl der Richter in der ersten Instanz beim Schöffengericht mit der in der Berufungsinstanz bei der kleinen Strafkammer identisch ist.

Gegen das Berufungsurteil der Landgerichte kann nach § 333 StPO das Rechtsmittel der Revision zu einem der 24 Oberlandesgerichte eingelegt werden. Die Revision eröffnet im Gegensatz zur Berufung nur noch eine begrenzte Überprüfung: im Wesentlichen auf Rechtsfehler sowie darauf, ob die festgestellten Tatsachen eine zuverlässige Grundlage für die Prüfung bieten.6 Die Oberlandesgerichte entscheiden in der Regel in der Besetzung mit drei Berufsrichtern (§ 122 GVG).

Statt gegen ein Urteil des Amtsgerichts zunächst mit der Berufung vorzugehen, können die Prozessparteien auch sogleich eine sogenannte Sprungrevision zum Oberlandesgericht einlegen (§ 335 StPO), also sozusagen das Rechtsmittel der Berufung überspringen. Das geschieht in der Praxis aber eher selten.

Schwere Straftaten, wie etwa eine Anklage wegen Mordes, werden in Erster Instanz vor einem der 115 Landgerichte in Deutschland verhandelt. Die Große Strafkammer ist entweder mit zwei Berufsrichtern und zwei Schöffen oder mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen besetzt (§ 76 GVG).

Gegen ein Urteil des Landgerichts ist nur ein Rechtsmittel und zwar das der Revision zum Bundesgerichtshof in Karlsruhe möglich (§ 333 StPO). Das Rechtsmittel der Revision führt, wie bereits gesagt, nur zu einer begrenzten Überprüfung des Urteils. Die Senate des Bundesgerichtshofs entscheiden mit fünf Berufsrichtern (§ 139 Abs. 1 GVG). In der Gesamtschau lässt sich der zunächst etwas seltsam anmutende Umstand erkennen, dass in einer kleinen Strafsache in Deutschland zwei Rechtsmittel, nämlich erst das Rechtsmittel der Berufung zum Landgericht und anschließend das der Revision zum Oberlandesgericht, zulässig sind. Bei schweren Strafsachen steht dagegen nur das Rechtsmittel der Revision zum Bundesgerichtshof zur Verfügung. Der Grund dafür, dass es in Deutschland in schweren Strafsachen nur ein Rechtsmittel gibt, liegt in der Erwägung, dass das Gericht ein Verfahren vor dem Landgericht weitaus sorgfältiger führen kann als das vor dem Amtsgericht der Fall ist, vor dem viele kleine Fälle schnell erledigt werden müssen. Insoweit spricht man auch davon, dass das Amtsgericht das Massengeschäft zu bearbeiten hat.

In ganz seltenen Fällen, vor allem in sogenannten Staatsschutzverfahren, entscheidet in erster Instanz ein Senat des Oberlandesgerichts (§ 120 GVG). Das Gericht ist dann mit drei oder sogar fünf Berufsrichtern besetzt (§ 122 GVG). So verhandeln z. B. derzeit im sogenannten NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München fünf Berufsrichter über die schweren Straftaten einer Gruppierung, der eine Reihe von Mordtaten auch an türkischstämmigen Einwohnern in Deutschland vorgeworfen wird. Gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts in erster Instanz kann nur mit dem Rechtsmittel der Revision (§ 333 StPO) vorgegangen werden, über das wiederum nur der Bundesgerichtshof entscheidet (§ 135 Abs. 1 GVG).

Soweit mein kurzer Überblick über den strafrechtlichen Instanzenzug in Deutschland. Aber wie passt sich das deutsche Modell in den internationalen Kontext ein? Im Rahmen unseres Forschungsprojekts konnten wir, international betrachtet, vier verschiedene Rechtsmittelmodelle identifizieren (Schaubild 2).

Wenn ich bei dem ausgezeichneten Kenner des türkischen Strafprozessrechts, meinem geschätzten Kollegen Feridun Yenisey richtig nachgelesen habe,7 war vor der Einführung der Berufung in das türkische Recht, gegen strafrichterliche Urteile in der Türkei nur ein Rechtsmittel möglich. Nach der Reform sind nunmehr zwei Rechtsmittel zulässig. Deutschland verfügt dagegen, wie erwähnt, bei leichten Straftaten über zwei, bei schweren Straftaten dagegen nur über ein Rechtsmittel. Daneben ist ein Modell denkbar, dass bei schweren Straftaten zwei, bei leichten dagegen nur ein Rechtsmittel vorsieht.

II. Aktuelle empirische Daten zum Gebrauch der Rechtsmittel in Deutschland

In Teil 2 meines Vortrags möchte ich Ihnen zunächst einige ganz aktuelle Ergebnisse zum derzeitigen Gebrauch der Rechtsmittel in Deutschland vorstellen.

Nach der amtlichen Statistik wurden in Deutschland zuletzt im Jahr 2015 vor dem Amtsgericht etwas mehr als 275.000 Strafverfahren (genau: 275.049) durch ein Urteil erledigt. Angefochten wurden von diesen Urteilen etwas mehr als 41.000 (41.374) und damit nur rund 15%. Umgekehrt wurden also 85% (233.675) der amtsgerichtlichen Strafverfahren trotz der Möglichkeit einer Berufung bereits in erster Instanz rechtskräftig (Schaubild 3).8 Diese geringe Anfechtungsrate ist in Deutschland seit Jahren sehr stabil.9

Dieser bereits geringe Anteil wird noch geringer, wenn man die von den Amtsgerichten durch Strafbefehl erledigten Verfahren hinzunimmt. Das Strafbefehlsverfahren ist eine Art schriftliches Verfahren bei kleinen Delikten (§§ 407 ff. StPO), in dem es zu keiner Hauptverhandlung kommt. Immerhin gab es in Deutschland zuletzt im Jahr 2015 knapp 600.00 (585.754) Anträge auf Erlass von Strafbefehlen, die ebenfalls ganz überwiegend rechtskräftig wurden.10

Auch im Jahr 2015 gilt daher in Deutschland: Die bei weitem überwiegende Anzahl von amtsgerichtlichen Strafverfahren wird ohne Einlegung einer Berufung bereits in der ersten Instanz rechtskräftig. Als wichtiges Zwischenergebnis muss daher festgehalten werden: Der durch die Amtsgerichte erzeugte Rechtsfrieden, die wie auch immer hergestellte oder zu bewertende Zufriedenheit aller Beteiligter mit der Entscheidung ihres konkreten Falls, ist außerordentlich groß.11

Was geschieht nun mit den etwas mehr als 44.000 (44.099) Berufungsverfahren, die zuletzt (2015) in Deutschland von den Landgerichten erledigt wurden?

Schaubild 4 zeigt, dass nur in knapp der Hälfte der Fälle (49,6%; 21.867) das Berufungsverfahren tatsächlich in ein Urteil mündet, also von Anfang bis zum Ende durchgeführt wird. Immerhin mehr als ein Drittel der Fälle (34,6%; 15.243) erledigt sich bereits vorher, in dem der oder die Rechtsmittelführer ihre Berufung zurücknehmen. Weitere rund 15% (15,8%; 6.989) werden auf andere Weise abgeschlossen, etwa in dem das Landgericht das Verfahren in der Berufungsinstanz einstellt, z. B. gegen die Zahlung einer Geldauflage nach § 153a StPO.12

Schauen wir nun darauf, inwieweit es den Berufungskammern am Landgericht gelingt, in Strafsachen zu einem abschließenden Ergebnis zu kommen. Von den von den Landgerichten durch Urteil im Jahr 2015 erledigten knapp 22.000 Berufungsverfahren (21.867) wurden wiederum fast drei Viertel (72,7%; 15.888) rechtskräftig. Nur etwas mehr als ein Viertel (27,8%; 5.979) wurde mit der Revision zum Oberlandesgericht angefochten (Schaubild 5).13

Schaubild 6 gibt Auskunft darüber, wie schnell Berufungsverfahren vor deutschen Gerichten erledigt werden. Von der Verkündung des angefochtenen Urteils durch das Amtsgericht bis zur Erledigung in der Berufungsinstanz durch das Landgericht benötigen die deutschen Gerichte durchschnittlich 7,4 Monate. Misst man nur die Zeit von dem Eingang des Verfahrens in der Berufungsinstanz beim Landgericht bis zu seiner Erledigung reduziert sich der entsprechende Wert auf nur noch 4,9 Monate.14 Die Dauer der Berufungsverfahren wird also in einem nicht unerheblichen Maß von der Verweildauer der Akten bei den Amtsgerichten bestimmt. Möglicherweise werden sich in nicht allzu ferner Zukunft in Deutschland die Bearbeitungsdauern der Verfahren durch die Einführung der sogenannten elektronischen Akte reduzieren lassen.

Vergleicht man die aktuellen Ergebnisse der Bearbeitungsdauern der Berufung mit denen aus dem Jahr 1995, benötigten die deutschen Gerichte zuletzt im Jahr 2015 knapp einen Monat länger für die Erledigung ihrer Berufungsverfahren. Diese Zunahme ist einer längeren Bearbeitungszeit bei den Amtsgerichten geschuldet.15 Die dortigen Richterinnen und Richter klagen in der letzten Zeit in einer besonderen Art und Weise über eine hohe Arbeitsbelastung.

Werfen wir zum Abschluss der Übersicht über die aktuellen Ergebnisse noch einen Blick auf die Revisionsverfahren, die vor den Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof durchgeführt werden.

Tabelle 1 zeigt, dass die weitaus meisten Revisionsverfahren (96,1%; 5.639) durch die Oberlandesgerichte ohne eine Hauptverhandlung erledigt werden.16

Aus Tabelle 2 lässt sich erkennen, dass bei den Revisionsverfahren vor dem Bundesgerichtshof fast drei Viertel der eingelegten Revisionen (72,8%; 2.125) nach § 349 Abs. 2 StPO einstimmig als offensichtlich unbegründet durch Beschluss verworfen werden.17

III. Die wichtigsten (empirischen) Ergebnisse der Studie Rechtsmittel im Strafrecht aus dem Jahr 2000

Ziel der bereits erwähnten, im Jahr 2000 am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg durchgeführten Studie über „Rechtsmittel im Strafrecht“ war es, mehr über die „Rechtswirklichkeit und Effizienz strafrechtlicher Rechtsmittel unter Berücksichtigung des internationalen Standards“ zu erfahren. Den rechtspolitischen Hintergrund bildete ein Gutachtenauftrag des Bundesministeriums der Justiz.

Dem Gutachten lag die immer wieder in Deutschland geführte Klage zugrunde, dass das Rechtsmittel der Berufung nicht nur ineffizient sei, da durch sie die Ergebnisse des erstinstanzlichen Verfahrens vor dem Amtsgericht praktisch wertlos würden. Darüber hinaus sei zweifelhaft, ob der große Zeitabstand zwischen Tat und Berufungsverfahren nicht die Tatsachenbasis für die zu findende Entscheidung verschlechtere.